Als ich am 2. November Thailand verließ und nach Kambodscha flog, war ich bereits seit drei Monaten und einen Tag auf Weltreise. Thüringen war zu diesem Zeitpunkt per Luftlinie zirka 8.800 Kilometer entfernt. Am Flughafen in Phuket traf ich auf ein deutsch sprechendes Paar, die in den gleichen Flieger stiegen. Bereits hier ergab sich ein kurzer Smalltalk, bei welchem ich herausfand, dass die beiden ebenfalls nach Siem Reap flogen. In Bangkok angekommen, hatte ich einen mehrstündigen Aufenthalt. In der Wartehalle traf ich das junge Paar wieder, setzte mich zu ihnen und wir begannen, miteinander zu quatschen. Als ich sie fragte, woher sie denn kommen, lautete ihre Antwort: „Jena“. Das ich in etwa 9000 Kilometer Entfernung zufällig Thüringer Landsleute treffe, damit hätte ich nun wirklich nicht gerechnet. Max und Andrea, so ihre Namen, waren mir gleich sehr sympathisch. Dementsprechend schnell sollte die Wartezeit vergehen.
Am Flughafen in Siem Reap gelandet, beantragte ich für 30 Dollar (zurzeit im Wert gleich dem Euro) ein „Visum on Arrival“. Im Vergleich zum E-Visum, welches man hier und in anderen asiatischen Ländern online beantragen kann, dauert das Prozedere der Einreise dann meist etwas länger. So auch hier. Übrigens, für Thailand benötigte ich kein Visum. Deutsche, deren Reisezweck rein touristischer Natur ist, dürfen sich in Thailand bis zu 45 Tage ohne Visum aufhalten.
In Siem Reap war ich im Hause einer kambodschanischen Familie untergebracht. Meine Gastgeberin hieß Saron, war 41 Jahre alt und mit einem strammen Estländer verheiratet. Dieser arbeitet als Veterinär in Finnland und ist nur manchmal für ein paar Wochen in Kambodscha. Während meines zehntägigen Aufenthaltes bekam ich ihn nur selten zu Gesicht. Was er tagsüber in seinem Haus tut, weiß selbst Saron nicht genau. Sie fragt auch nicht, meinte sie. Saron ist echt zu bewundern. Sie vermietet nicht nur die schicken Zimmer/Apartments in ihrem Haus, sondern kümmert sich um alle notwendigen Reparaturen und pflegt das Außengelände. Zudem kocht sie für ihre Familie, zu welcher neben einem Sohn auch drei Neffen und Nichten zählen. Beispielsweise Dyna. Der 20-Jährige wohnt bei seiner Tante, da er, vom Lande kommend, anderweitig keine Möglichkeit gehabt hätte, IT zu studieren. Seine Eltern leben getrennt. Die Mutter arbeitet, um ihrer Schwester gelegentlich etwas Geld für ihren Sohn zukommen zu lassen. Dyna hat freilich auch einen Vater, doch der kümmert sich nicht. Er ist mittlerweile zum zweiten Mal verheiratet, hat kaum Kontakt zu seinem Sohn und finanziell ist nichts zu erwarten. Sollte er mal Geld schicken, dann ist das laut Saron ganz ganz wenig. In mir hatte Dyna einen Freund gefunden. Der Fußball war auch hier das verbindende Element. Dyna liebt diesen Sport, ist sehr talentiert, Fan von Manchester United und möchte gern Fußballprofi werden. Ob ihm das gelingt, weiß ich natürlich nicht, drücke ihm aber die Daumen. Gemeinsam spielten wir mehrmals Fußball, jeweils abends im Hof, zusammen mit Rottanak, Sarons Sohn, und Ponleu, Sarons anderem Neffen. Um wenigstens einmal auf richtige Tore zu schießen, mieteten wir uns in Siem Reap einen kleinen Kunstrasenplatz. Hierfür schnürte ich mir sogar wieder die Fußballschuhe, die mir Dyna lieh. Fünf Monate waren da seit meinem letzten Spiel für Fortuna Griesheim vergangen. Es dauerte auch nicht lange und unser Freizeitbolz hatte die Aufmerksamkeit ein paar neugieriger kambodschanischer Kinder auf sich gezogen. Als ich sie fragte, ob sie Lust hätten, eine Runde mitzuspielen, sagten sie natürlich nicht nein. Trotz Sprachbarriere war dies ein tolles Erlebnis mit jeder Menge Spaß.
Dyna feierte während meines Aufenthaltes seinen 20. Geburtstag. Ich schenkte ihm etwas Geld, denn er hatte mir zuvor erzählt, dass er sich neue Fußballschuhe kaufen will. Dyna bestellte sie online. Zu meiner Überraschung wurden sie bereits am nächsten Tag zugestellt und die Schuhe hatten eine spezielle Signatur, denn Dyna ließ sie besticken. Auf dem einen Schuh stand sein Name und auf dem anderen meiner. Die Freude in seinem Gesicht über diese Schuhe war überwältigend. Er bedankte sich bei mir nochmal mit einer herzlichen Umarmung. Überhaupt war die Gastfreundschaft und Herzlichkeit dieser und anderer Kambodschaner wieder einmal überwältigend.
Nun. Warum war ich eigentlich nach Kambodscha gekommen? Noch vor ein paar Wochen wusste ich nicht viel über dieses Land im klassischen Indochina. Ich hatte lediglich von ein paar Tempeln im Dschungel gehört, ahnte aber nicht mal ansatzweise, wie alt und einzigartig diese waren. Außerdem las ich von den sogenannten „killing fields“, ohne zu ahnen, dass mich deren Besuch zu Tränen rühren würde.
In Siem Reap besuchte ich also die Tempel von Angkor Wat. Übersetzt – „die Stadt der Tempel“. Man findet sie sowohl auf der Währung als auch auf der Landesflagge. Sie sind das Nationalsymbol Kambodschas und stehen auf so ziemlich jeder Bucketlist von Weltenbummlern. Und das völlig zurecht, denn es handelt sich um eine der eindrucksvollsten und größten Tempelanlagen auf der ganzen Welt. Auch wenn man sie teilweise als Angkor Wat zusammenfasst, handelt es sich bei Angkor Wat eigentlich nur um einen Tempel, nämlich den berühmten Haupttempel mit den fünf Türmen.
Erbaut wurde dieser vor zirka 1000 Jahren unter dem kambodschanischen König Suryavarman II., der in der Zeit von 1113 bis etwa 1155 regierte. Der Bau, er dauerte 37 Jahre, zählt in die Zeit der Khymer. Sie regierten Indochina vom 9. bis zum 13. Jahrhundert. Jeder König baute einen weiteren Staatstempel und versuchte seine Vorgänger zu übertrumpfen. So entstand diese über 400 Quadratkilometer große Tempelstadt, deren Ruinen heute das kulturelle und touristische Herz von Kambodscha bilden.
Zwölf Tempel zählt man zu den jenen, die man gesehen haben soll. Diese an einem Tag zu besichtigen, ist nahezu unmöglich und auch nicht ratsam. Man benötigt mindestens zwei bis drei Tage. Dafür kauft man sich ein entsprechendes Ticket, welches man an diversen Straßen-Checkpoints und jedem Tempel vorzeigen muss. Es gibt zwei Rundwege, den Small Circuit und den Grand Circuit. Letzteren absolvierte ich am ersten Tag, charterte mir dafür ein Tuk Tuk inklusive Fahrer. Er begleitete mich den ganzen Tag (etwa neun Stunden) und fuhr mich dabei von Tempel zu Tempel. Er selbst wartete stets vor den Tempeln auf den jeweiligen Parkplätzen. Die Tempel der kleinen Runde besichtigte ich am zweiten Tag ohne Begleitung, dafür hatte ich mir ein Fahrrad ausgeliehen. Immer dann, wenn ich nahezu allein den jeweiligen Tempel erkundete, fühlte ich mich wie richtiger Entdecker und konnte die mystische Stimmung, die von ihnen ausging, voll und ganz auf mich wirken lassen.
Die Tempel, die sowohl buddhistische als auch hinduistische Einflüsse aufweisen, wurden aus Sandstein gebaut. Deshalb müssen und werden sie heutzutage konstant gepflegt und restauriert.
Außerdem verfielen mit dem Ende des Khmer-Reiches die Anlagen und der Dschungel eroberte sich Stück für Stück das zurück, was ihm einst genommen wurde. Da ich so viele wunderschöne Tempel besichtigte und jeder seinen ganz speziellen magischen Charme versprühte, ist es mir kaum möglich, einen Favoriten zu benennen. Neben dem „Angkor Wat“, ist „Ta Prohm“ mit seinem von Wurzeln überwucherten Mauerwerk faszinierend. „Bayon“ war für mich mit seinen zahllosen in Stein gemeißelten Gesichtertürmen ebenfalls sehr eindrucksvoll. Einen Sonnenuntergang erlebte ich auf dem „Phnom Bakheng“, einem Pyramidentempel, der dem Gott Shiva geweiht ist. Übrigens traf ich hier wieder zufällig auf Max und Andrea aus Jena.
Antreffen wird man in diesem riesigen Tempelkomplex auch Einheimische, die hier in kleinen Siedlungen wohnen. Manche von ihnen bieten den Besuchern Getränke und Essen an, andere demonstrieren ihr Handwerk. Beispielsweise der 30-jährige Seng. Ihm schaute ich bei seiner Arbeit über die Schuler. Er stellte die für Kambodscha sehr bekannten Schattenpuppen aus Leder her. Die Kunstwerke, an manchen arbeitet er mehr als zehn Tage, wurden ursprünglich als Schattenfiguren entworfen, mit denen man im Theater Märchen aufführte oder Geschichten erzählte.
Während meiner Zeit in Siem Reap unternahm ich natürlich noch weitere Ausflüge. Gemeinsam mit Dyna fuhr ich mit dem Roller bis zur Bootsanlegerstelle von Kampong Phluk, einer schwimmenden Gemeinde mit zirka 3000 Dorfbewohnern auf der Au des Tonle Sap-Sees, dem größten Süßwassersee in Südostasien. Wir stiegen in ein lokales Boot und warfen einen Blick auf das Dorfleben, während wir an schwimmenden Häusern, Schulen oder Kliniken vorbeifuhren. Die Menschen führen in ihren Pfahlbauten ein sehr einfaches Leben und verdienen ihren Lebensunterhalt hauptsächlich mit dem Fischfang, einige leben von neugierigen Touristen, zu denen ich mich an dieser Stelle zählen muss.
Wie überall in Südostasien gab es auch in Siem Reap ein paar tolle Märkte, beispielsweise den „Phsar Leu“, der größte Markt der Stadt. Theoretisch und praktisch wird hier alles angeboten. Wirklich alles. Klamotten, Schmuck, Haushaltswaren, Blumen, Obst, Gemüse, Fleisch, Fisch und anderes. Ich entdeckte unglaublich viele exotisch aussehende essbare Dinge, die ich definitiv nie essen und auch nicht probieren werde. Hier kaufen die Einheimischen täglich ihre Lebensmittel, Speisen werden frisch zubereitet, die Verkäufer schlafen zwischen ihren Waren, es ist schmutzig und es riecht eigentümlich. All das, sei es noch so eigenartig und für Europäer teilweise ekelerregend, macht diese Märkte so besonders.
Nachdem ich mich schweren Herzens von Saron und ihrer Familie verabschiedete, fuhr ich mit dem Bus nach Phnom Penh, der Hauptstadt des Landes. Hier erhielt ich tiefe Einblicke in die jüngere Geschichte Kambodschas mit der Herrschaft der Roten Khmer. So besuchte ich das Tuol Sleng Museum. Ausgestellte Folter- und Mordinstrumente, schwarz-weiß Fotografien von jungen und alten Menschen und kleine Zellen aus Holz oder Ziegelsteinen lassen nur erahnen, was sich in diesem ehemaligen Gefängnis S-21 ereignete. Zwischen 1975 und 1978 wurden hier zirka 17.000 Menschen inhaftiert und anschließend zu den Killing Fields gebracht, wo sie ein tödliches Martyrium erlitten. Bewegend war die Begegnung mit mittlerweile älteren Menschen, die das S-21 Gefängnis überlebten. Das gelang insgesamt nur sieben Menschen. Drei von ihnen waren an jenem Tag im Museum, als ich es besuchte. Dort verkauften sie ihre Bücher, die von ihrem schweren Schicksal berichten.
Das Genozid-Museum ist nichts für schwache Nerven. Die ausgestellten Fotografien, welche die Roten Khmer zur Dokumentation ihrer Gefangenen anfertigten, zeigen die Menschen, die gefoltert und später ermordet wurden. Manchmal vor und nach der Folter. Das ganze Ausmaß menschlicher Grausamkeit wurde mir beim Besuch von Choeung Ek deutlich. Das ist eines der sogenannten „Killing Fields“ und liegt etwa 17 Kilometer von Phnom Penh entfernt.
Zirka 17.000 Menschen wurden hier auf grausamste Art und Weise umgebracht. Auch Babys und Kinder. Sie wurden an ihren Beinen gehalten und mit dem Kopf gegen einen auf diesem Gelände stehenden Baum geschlagen. Der Chankiri- Baum ist dieser besonders grausame Ort, an welchem auch mir die Tränen in den Augen standen.
1980 wurden in Choeung Ek 8985 menschliche Überreste ausgegraben. In einer Gedenk-Stupa sind mehr als 8000 Totenschädel sichtbar hinter Glasscheiben ausgestellt. In dieser von Tod bestimmten Atmosphäre legte ich eine Blume nieder und sprach ein Gebet für die Opfer dieses unfassbaren Völkermordes. Die Erinnerungsstätte ist sicherlich kein schöner Platz, aber ein Ort gegen das Vergessen, der mir eine sehr bewegende Reise in das Grauen der Vergangenheit ermöglichte. Man bedenke, es gab im ganzen Land mehr als 300 dieser Stätten zur Massenermordung. Fazit: es gibt Reisetage, die die Art und Weise, wie ich die Welt sehe, beeinflussen und möglicherweise auch verändern. Die Auseinandersetzung mit dunklen Vergangenheit Kambodschas war einer dieser Tage.
Hier noch ein paar Bilder meines Aufenthaltes in Kambodscha.
Dieser Beitrag hat 3 Kommentare
Sehr schön zu lesen .Wir freuen uns auf deinen nächsten Reisebericht …
Liebe Grüße
Es sind wieder faszinierende Eindrücke die Du uns vermittelst. Es ist schön, dass Du uns so nah teilnehmen lässt an Deinen Gefühlen und Emotionen.
Liebe Grüße
Wie so oft findet man Sinn und Wahnsinn nah beieinander. Danke für Deinen bewegenden Bericht.