Im Land der Gegensätze

Indien. Das Land in Südasien stellt die siebte Station auf meiner Weltreise dar. Mit 3.287.469 Quadratkilometern ist es zirka neun Mal größer als Deutschland und zählt mit 1,37 Milliarden Einwohnern 16 Mal mehr Einwohner als mein Heimatland. Diese Dimensionen sind gigantisch. Nicht ohne Grund betitelt man es mancherorts als eigenen Kontinent. Natürlich hatte ich bereits im Vorfeld meiner Reise gehört und gelesen, dass mich in dieser Bundesrepublik Menschenmassen und zahlreiche gegensätzliche Eindrücke erwarten. Ferner hatte ich ja schon einige afrikanische Länder bereist, die in Aspekten wie Verkehr, Umweltverschmutzung und Alltagsleben gewisse Ähnlichkeiten aufweisen. 

Doch das, was ich in meinen ersten Tagen in Indien erlebte, übertraf meine Vorstellungen um ein Vielfaches. Niemals hätte ich mir ausmalen können auf so starke gesellschaftliche Kontraste zu treffen. 

Auf der einen Seite: eine uralte Weltkultur, prachtvolle Gärten mit wunderschönen Palästen, beeindruckende Gebäude mit typisch viktorianischer, hinduistischer oder buddhistischer Architektur, leuchtende Farben, faszinierende Feste, interessante religiöse Rituale, exotische Gewürze und Gerüche sowie freundliche Menschen. Dieses Indien ist toll.

Das Bahnhofs-Verwaltungsgebäude in Mumbai.

Auf der anderen Seite: geschlechtsbedingte Unterdrückung – hier speziell das Verhalten gegenüber Frauen und Transmenschen, menschenunwürdige Lebensbedingungen, unhygienische und extrem beengte Lebensverhältnisse in den Slums, stinkende Müllberge, dreckige Viertel, das Chaos auf den Straßen mit dem mörderischen und lauten Verkehr. Auch das gehört zur Realität.

Stinkender Müll auf der Insel der “Elephanta-Caves“.

Indien ist in der Tat ein Land der Gegensätze. Natürlich kann man diese in nahezu allen Großstädten der Welt beobachten, doch die Selbstverständlichkeit, mit denen man jenen Gegensätzen hier begegnet, habe ich bisher an keinem anderen Ort der Welt feststellen können. Ein Beispiel. So liegen zwischen einem Fünf-Sterne-Luxus-Hotel und einem aus baufälligen Hütten bestehenden Viertel nur 200 Meter. 

Im Vordergrund ein kleines und unangenehm riechendes Armenviertel und im Hintergrund ein 5-Sterne Luxushotel.

Hier riecht es muffig. Sanitäre Anlagen sind kaum vorhanden. Verwahrloste Hunde und Ratten ziehen durch die schmalen Gassen. Menschen, manche verstümmelt oder von Krankheit gezeichnet, sitzen hier. Meist Ältere. Sofern ich des Weges komme, halten sie die Hand auf, sprechen ein paar für mich nicht verständliche Worte und setzen ihre Hoffnung in ein paar indische Rupien. 

Andere wiederum – meist Kinder – laufen mir nach, blicken mich mit ihren großen Augen an, die eine Hand bittend ausgestreckt, die andere zeigt zum Mund. „Chapati! Chapati! Sir, please!“ – das sind ihre zu Herzen gehenden Worte. Etwas schmutzig dastehend und mit großen Augen dreinblickend, versuchen sie sich etwas zu erbetteln. Um den Wunsch zu verspüren, diesen armen Kleinen zu helfen, muss man weder Mutter noch Vater sein. Es fällt mir schwer, diesem Anblick zu widerstehen. 

Die Armut ist hier allgegenwärtig. Für einen Christen wie mich, der Nächstenliebe lebt, ist das nur schwer auszuhalten. Natürlich muss Armut bekämpft werden. Aber ich weiß auch, dass den Bettlern Almosen zu geben, kein Ausweg aus der Armut ist. Erst recht nicht, wenn hinter manchem Bettler eine organisierte Bande steckt. Man sagte mir, dass es bestimmte Gebiete gibt, in denen Bettler einen Großteil ihrer Einnahmen an Bandenchefs abgegeben müssen, um überhaupt in diesem Territorium betteln zu dürfen. Ihnen selbst bleibt am Ende von der Spende kaum etwas. Es ist also Vorsicht geboten, wenn man etwas geben will. Ratsam ist Essen, das man gekauft hat, zu geben. 

Im letzten Blogeintrag versprach ich, dass ich heute über die Erlebnisse der ersten Tage meines Indienaufenthaltes berichten werde, ob ich mich in den Straßen der Millionenmetropole bereits verlief, wie mein Magen auf indisches Essen reagierte und warum ich oft fotografiert oder nach einem Selfie gefragt werde.

Beginnen möchte ich beim Indischen Essen –  ein Fest für die Sinne. Neben zahlreichen vegetarischen Gerichten – Indien gilt als Land der Vegetarier – gibt es auch deftige Fleischgerichte, meist mit Huhn, Ziege, Schwein- oder Lammfleisch. Da die Kuh heilig ist, sucht man hier vergebens nach verzehrbarem Rindfleisch. Reisgerichte (Biryani), Currygerichte, gefüllte Teigtaschen (Samosas) sowie viel frisches Obst und Gemüse sind typisch. Übrigens kommen Gewürzliebhaber bei den indischen Spezialitäten voll auf ihre Kosten, denn die Speisen werden nach orientalischen Einflüssen mit Kreuzkümmel, Safran, Kokosmilch, Kurkuma, Ingwer, Knoblauch und Tamarinde verfeinert. Nüsse und Milchprodukte werden auch oft verwendet und als Beilage wird meist Fladenbrot serviert. Als erfrischende Getränke werden unter anderem süße und pikante Lassis (Joghurt-Getränke mit Gewürzen) oder Zitronenlimonade angeboten. Kleiner Fakt am Rande: Zitronen stammen aus Indien und Limonade wurde von Indern erfunden. Glaubt mir, einen Stand für frisch gepresstes Lemon Soda findet man an allen möglichen und unmöglichen Orten. 

Street-Food.

Jawad ist hungrig 😉

Mein Grundsatz in Sachen Speisen lautet: es ist eher unwichtiger was man in Indien isst, als viel mehr wo man es isst. Schmutzige und abgelegene Restaurants meide ich und bisher hatte ich keine Schwierigkeiten mit dem indischen Essen, welches ich oft mit dem Zusatz „not so spicy, please“ bestellte. Ferner trinke ich hier auch kein Leitungswasser, denn dieses wird nicht annähernd so gereinigt wie das unsere und ist deshalb mit Keimen und Bakterien belastet. Entweder kaufe ich abgepacktes Trinkwasser (maximal 25 Cent) oder ich nutze die Filteranlage meines Hostels. 

Letzteres liegt in Colaba, einem lebhaften Teil des alten Mumbai. Es gilt zugleich als das sicherste Viertel der Millionenmetropole. In diesem reichlich begrünten Stadtteil findet man viele Bauten aus dem Kolonialzeitalter (Art Deco-Architektur). Leider sind etliche schon arg heruntergekommen beziehungsweise verunstaltet. 

Top-Touristenattraktion ist das „Gateway of India“, ein Bogendenkmal, das im 20. Jahrhundert erbaut wurde, um an die Landung des englischen Königs George V. im Jahr 1911 zu erinnern.

Das “Gateway of India“ liegt am Wasser im Süden Mumbais und überblickt das Arabische Meer. Das Denkmal wird auch als Taj Mahal von Mumbai bezeichnet.

Von hier nahm ich auch eine Fähre zu den „Elephanta-Caves“. Ein Muss für Geschichts- und Archäologie-Fans. Nach einer Stunde Fahrt erklomm ich bei schwül-heißem Wetter die 693 Stufen zu dem Plateau, auf dem die Höhlen betreten werden konnten. 

Die Haupthöhlen der Elephanta-Caves erlitten während der portugiesischen Herrschaft große Schäden. In den 1970er Jahren wurde die Höhlen renoviert. 1987 wurde sie als UNESCO-Weltkulturerbe anerkannt.

Mit einem Guide, der mich und meinen Freund Jawad begleitete, tauchten wir ein in die Geschichte dieser Ausgrabungsstätte. Die große Halle der Höhle ist ein Meisterwerk der Architektur aus dem 6. Jahrhundert und wird von riesigen Säulen getragen. Wir erforschten die drei Höhlen, jede davon einzigartig, und bekamen einen Einblick in die religiöse Geschichte Indiens. 

Wenn man in Mumbai zu Gast ist, sollte man den „Sanjay Gandhi Nationalpark“ besuchen. Das hatten mir die netten Hostel-Mitarbeiter Ashpag und Pranali geraten. Er wird also Lunge der Stadt bezeichnet und ist der einzige Nationalpark der Welt, der sich auf dem Gelände einer Stadt befindet. Tatsächlich bot er mir die Gelegenheit, einmal abzuschalten und der Hektik der Stadt zu entfliehen.

Ein Nationalpark in der Mitte einer Millionenmetropole.

Buddhistische Mönche formten hier zwischen dem 10. und 1. Jahrhundert v. Chr. aus einem einzigen Basaltfelsen mehr als 100 Höhlen. Im Volksmund als Kanheri-Höhlen bekannt, enthalten sie buddhistische Skulpturen und Reliefs, Gemälde und Inschriften.

Interessante Einblicke in Indiens reiche und vielfältige Vergangenheit bekam ich im „Prince of Wales Museum“, das unter den Einheimischen eher als „Chhatrapati Shivaji Maharaj Vastu Sangrahalay“ bekannt ist. Es zählt zu den bekanntesten Museen Indiens. Zwei Stunden verbrachte ich in dem Komplex, der eine unzählige Sammlung antiker Artefakte, Skulpturen und Kunstwerke aus Indien, Tibet, Nepal und anderen fernöstlichen Ländern zeigt. Manche Ausstellungsstücke stammen aus der Zeit um 2000 vor Christus. Diesen alten Schätzen zu begegnen, ist für mich immer wieder beeindruckend. 

Neben zahlreichen weiteren kleinen und größeren Ausflügen in diverse Parks oder Viertel, stellte der Besuch eines hinduistischen Tempels für mich ein spannendes Erlebnis dar. Im Gegensatz zu meiner geliebten, ruhigen und nahezu menschenleeren Griesheimer Dorfkirche, traf ich hier auf eine große Menschenmasse. Hier pulsierte das Leben, hier wurde Handel getrieben, hier wurde ich von der bunten Menge der Pilger mitgerissen. Beim Hineingehen in den Tempel musste ich die Schuhe ausziehen, denn das Heiligtum darf nur barfuß oder auf Socken betreten werden. Hindus tun dies als Zeichen der Ehrfurcht. Es soll sie daran erinnern, dass der Ort, auf dem sie sich befinden, heilig ist. Hier ist der Platz, an dem sie mit Gott in Berührung kommen. Fotos zu machen, war deshalb nicht erlaubt. 

Apropos Fotos. An dieser Stelle möchte ich die Frage klären, warum ich in den letzten Tagen so oft fotografiert oder nach einem Selfie gefragt wurde. Die Antwort lautet: ich bin auf gewisse Art und Weise eine Attraktion. Eine Fototrophäe. Je weniger ausländische Touristen in einem Ort sind, umso größer die Attraktion. Ich persönlich finde die Selfie-Manie der Inder mit mir nicht schlimm. Als Tourist mache ich ja schließlich auch Fotos von Einheimischen. Bisher wurden die Anstandsregeln immer eingehalten und es schwebt stets ein weltoffener und freundlicher Charme mit. Das gefällt mir. 

Ein Selfie vor dem Tempel.

Zurück zum Tempel. Nach einem kleinen Labyrinth aus Gängen kam ich schließlich im Zentrum an – beim Allerheiligsten, dem Symbol der Gottheit. Normalerweise umrundet man dieses im Uhrzeigersinn, um dabei Anteil zu haben an der Kraft, die von Gott ausgeht – so wie sich die Erde um die Sonne dreht und dabei ihre Kraft auftankt. 

Mir und allen anderen Besuchern war das in diesem Tempel nicht möglich, denn jeder ist etwas anders aufgebaut. Für uns musste ein kurzes Zeichen der Ehrerbietung genügen. Zumal das Drängeln etwas anderes gar nicht zuließ. Drängeln ist üblich. Man tut es, um dem Göttlichen möglichst nahe zu sein und schnell den Segen zu erhalten. Ein Form der Religionsausübung, die für mich als Christen arg gewöhnungsbedürftig ist.  Achtsamkeit im Angesicht Gottes – aus meiner Sicht – meist Fehlanzeige.

Die Zeit, zu welcher ich nach Indien kam, stellte auch für die Einheimischen eine besondere dar. Das lag nicht an mir, sondern an einem der größten indischen Feste – Ganesh Chaturthi. Es wird 10-Tage gefeiert und erinnert an den Geburtstag von Gott Ganesha. Hindus glauben, dass der letzte Tag, der mächtigste ist, um den geliebten elefantenköpfigen Gott anzubeten, der für seine Fähigkeit verehrt wird, Hindernisse zu beseitigen. Während des Festes ziehen die Menschen tanzend und feiernd durch die Straßen. Sie spielen und singen Loblieder. Dabei werden sie von einem Auto begleitet, welches die geschmückte Statue der Gottheit beheimatet. Am letzten Tag werden die Statuen in fröhlichen Prozessionen zum Wasser getragen und unter Jubel versenkt. Tausende nahmen daran Teil. Ich beobachtete dieses Event mit dem dazugehörigen Respekt lieber aus der Ferne.

Eine kleine fröhliche Prozession auf den Straßen Colabas.

Dafür lehnte ich die Einladung, in meinem Hostel einem religiösen Ritual beizuwohnen, nicht ab. Es wurden Mantras (das sind Silben, Wörter oder Wortfolgen, die spirituelle Kraft haben) rezitiert, eine Kerze angezündet und Lieder gesungen, um Gott Ganesha zu würdigen. Anschließend unterhielten wir uns über unsere Religionen und den Glauben.

Gott Ganseha mit einem Ritual würdigen.

Fazit des spirituellen Erlebnisses und der sehr anregenden Unterhaltung: Menschen aus verschiedenen Kulturen und Religionen achten einander, können voneinander lernen und friedlich miteinander umgehen.

Dieser Beitrag hat 4 Kommentare

  1. Maria Urban

    Lieber Henry…
    Ich bin so beeindruckt….
    du beschreibt mit deinen Worten Indien genau so, wie ich es mir vorgestellt habe… wunderschön … andererseits unendlich traurig… Deine Worte holen mich auf den Boden zurück, wie gut es uns trotz kleiner Problemchen geht….
    Deinem Freund Jawad wünsche ich alles Glück der Welt und hoffe sehr, dass du ihm helfen kannst….

    Pass auf dich auf und alles liebe…

  2. Horst und Moni

    Lieber Henry,
    es ist so phantastisch was du alles so sehen und erleben darfst.
    Ich freue mich, daß du uns daran teilhaben lässt. Weiterhin viel Spaß und vor allem Gesundheit. Wir sind in Gedanken bei Dir.

    Liebe Grüße..

  3. Petra Seeber

    Ungemein spannend zu lesen!!! Sehr beeindruckend die Gegensätze welche du beschreibst. Für uns hier, die wir in „Wohlstand“ leben, kaum vorstellbar.
    Auch das Schicksal deines Freundes lässt mich schon sehr nachdenklich werden.
    Ich wünsche ihm und auch dir, bei allen Bemühungen für ihn eine bessere Lebenssituation zu erreichen, Erfolg.
    Bleib gesund und ich bin gespannt auf deine nächsten Berichte.

  4. Thomas Becker

    Atemberaubend. Deine plastischen Beschreibungen, die Bilder, die Videos – einfach unglaublich schön. Danke, dass du uns mitnimmst.

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