Als ich am 30. August meinen großen Rucksack am Flughafen in Sarajevo am Check-in-Schalter aufgab, ahnte ich noch nicht, mit welchen Sorgen und Problemen ich mich in den kommenden Tagen auseinanderzusetzen hatte.
Zunächst wollte ich in der Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas mit dem Bus zum Flughafen fahren, was mich 2,50 € gekostet hätte. Doch der Bus kam nicht und so musste ich mir für 13 € ein Taxi gönnen. Nun gut. Das war noch akzeptabel, zumal der Taxifahrer sehr nett war und sogar etwas deutsch sprach, weil er es einst in der Schule lernte.
In der Abfertigungshalle angekommen, hatte ich noch etwas Zeit und checkte mein Gepäck. Reisepass, Visum, Portemonnaie, Impfausweis und weitere wichtige Dokumente, Handy, iPad, Powerbank, Kopfhörer, Taschentücher, zwei Ohrstöpsel, ein paar Halsbonbons und einen dünnen Pullover – all das packte ich mein Handgepäck. Als jenes diente mir das abnehmbare Deckelfach meines Rucksacks. Warum ich das erwähne, ihr werdet es später lesen.
Am Check-In Schalter kam es zu folgendem Gespräch zwischen einem Flughafenmitarbeiter von Qatar Airways und mir.
Hallo Sir. Wohin reisen Sie?
Nach Mumbai, Indien.
Sie haben ihren Reisepass bei sich?
Ja, natürlich!
Sie sind in Besitz eines gültigen Visums für Indien?
Ja, das bin ich.
Sie sind vollständig geimpft?
Ja, mehr als vollständig.
Sie haben sich bei Air Suvidha registriert?
Wo?
Air Suvidha!
Wie bitte?
Air Suvidha!
Okay, jetzt nochmal langsam und von vorn. Was genau soll das sein?
…….
Schließlich erklärte mir der freundliche Herr, das dies eine Online-Selbsterklärung des aktuellen Gesundheitszustands eines Passagiers und der jüngsten Reisedetails ist. Natürlich hatte ich davon noch nichts gehört und auch auf der Seite des Auswärtigen Amtes war davon nichts geschrieben. Doch da die Einreichung des Formulars ein kontaktloses Verfahren ist, das vom Ministerium für Zivilluftfahrt eingeleitet wurde, konnte ich es online ausfüllen. Nach 15 Minuten war auch das geschafft und ich checkte ein.
Gespannt war ich auf das Gewicht meines Rucksacks, nachdem ich ja einen großen Teil meines Wanderequipments an meine Griesheimer Freunde gab, die es von Kroatien mit in die Heimat nahmen. 17,7 Kilogramm zeigte die Waage an. Wow. In Frankfurt, vier Wochen zuvor, waren es 25 kg. Mein Handgepäck wog 3,3 kg. Ein Monat zuvor waren das noch zirka 5 kg.
Gut gelaunt und mit meinem Handgepäck auf dem Rücken setzte ich mich schließlich in den Flieger von Sarajewo nach Doha. Dieser hob aufgrund irgendwelcher Schwierigkeiten erst eine Stunde später ab. In der Hauptstadt Katars angekommen, hatten ich und viele andere Passagiere aufgrund der Verspätung nur wenig Zeit zum Umsteigen. Beispielsweise die Judoka der australischen Jugend-Nationalmannschaft, die während des Fluges vor und hinter mir saßen. Entsprechend hektisch ging es zu, als wir die riesige Flughafenhalle betraten.
Für mich ging es weiter nach Mumbai. Hier gelandet, kämpfte ich mich kurz durch die Formalitäten. Dabei musste ich alle entsprechenden Dokumente vorzeigen und konnte schließlich offiziell einreisen. Soweit, so gut. Nun zum Gepäckband. Es ist in Bewegung. Rucksack abholen. Doch mein Hab und Gut ist noch nicht zu sehen. Okay, das kommt gleich. Weitere Koffer füllen das Band. Doch nichts zu sehen von meinem 90 Liter fassendem Rucksack. Ich warte weitere Minuten, in der Hoffnung es tut sich noch etwas. Vergebens.
Nach zahlreichen Flügen, bei denen bisher stets alles wunderbar funktionierte, war ich nun fällig. Mein Gepäck war verschwunden. Da kamen mir mein Freund Mario und seine Frau Ines in den Sinn. Sie mussten in diesem Sommer sechs Wochen warten, bis sie ihre Koffer, die schon als verschollen galten, wieder hatten. Für mich wäre das eine Katastrophe, dachte ich. Schließlich ist es doch das Einzige, was ich in meinem derzeitigen Leben, welches durch diese Weltreise gekennzeichnet ist, noch besitze.
Ich machte mich also auf die Suche nach kompetenten Flughafenpersonal. Sie wüssten ja, was jetzt zu tun sei. Ich kontaktierte also einen Mensch am Gepäckband. Der dachte wahrscheinlich ich sei blind und suchte mit mir noch einmal das mittlerweile fast leere Gepäckband ab. Dann brachte er mich zu einem Menschen an einem anderen Gepäckband. Er wird mir helfen, so die Aussage. Dieser suchte erneut das nun leere Gepäckband ab. Anschließend telefonierte er und meinte, ich soll hier mal warten. 15 Minuten später kamen zwei Frauen. Ihnen erklärte ich ebenfalls, dass mein Rucksack verschwunden sei. Auch sie suchten noch einmal vergebens am… richtig….am leeren Gepäckband. Dann sollte ich doch nochmal beschreiben, wie mein Koffer aussah.
Nein, ihr Lieben. Das ist kein Koffer. Es ist ein riesengroßer Rucksack in einem „Flight Cover“.
In einem was?
Einem „Flight Cover“. Also eine leichte, ökonomische Transporthülle mit Rollverschluss, die Rucksäcke und deren Gurte, Schnallen und Riemen auf Flugreisen schützt.
Ein Foto schien dann Klarheit in die sich immer noch fragenden Gesichter des Flughafenpersonals zu bringen. Ihnen zu erklären, dass ich das abnehmbare Deckelfach meines Rucksacks aber noch habe, weil ich es als Handgepäck nutzte, war ebenfalls nicht leicht. Auch hier brachte ein Foto Licht ins Dunkel. Nach etwa einer Stunde durfte ich gemeinsam mit den zwei bereits erwähnten Damen ein Formular ausfüllen, welches den Verlust meines Gepäcks offiziell machte. Ich sollte schätzen, welchen Wert der Inhalt des vermissten Stücks habe. 1000 Euro – schätzte ich grob, inklusive des neuen und kostspieligen Rucksacks, der speziellen Wanderklamotten und anderem Zeug. Jetzt tippten sie auf ihrem Taschenrechner. Okay, das übersteige irgendeinen Wert und ich würde damit irgendwelche Einfuhrbestimmungen überschreiten. Genervt und müde sagte ich der jungen Frau, sie möge einfach den Wert notieren, der für sie und Indien kein Problem darstellt. Schließlich wurde ich mit einer Telefonnummer entlassen. Diese könnte ich in den nächsten Stunden kontaktieren, um mich nach meinem bagpack zu erkundigen. Normalerweise sollte es nur ein bis zwei Tage dauern, versicherte man mir.
Es war mittlerweile 5 Uhr am Mittwochmorgen, ich saß müde und genervt am Flughafen in Mumbai und wartete auf meinen Freund Jawad, der mich abholen wollte. Eine Stunde später war es dann soweit. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich meinen afghanischen Freund in die Arme schließen. Wenn ich an dieser Stelle schreibe, dass dieser Augenblick zu den besten Momenten meines Lebens zählte, fragt ihr euch sicherlich warum. Immerhin hatte ich doch in den vergangenen Stunden mein Hab und Gut verloren. Nun. Die Freundschaft zu Jawad stellt etwas Besonderes dar. Wir kennen uns seit vier Jahren. Kennengelernt hatte ich ihn über eine afghanische Familie, die ich Rahmen meiner ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe im Ilm-Kreis betreute. Nicht nur diese Familie zähle ich mittlerweile zu meinen Freunden, sondern auch Jawad. Seit unserem ersten Telefonat stehen wir regelmäßig in Kontakt über WhatsApp und andere soziale Netzwerke. Ihn zu treffen, war der Grund für meine Reise nach Indien.
An dieser Stelle möchte ich euch Jawad näher vorstellen, gab es doch bereits die eine oder andere neugierige Frage eurerseits, wer dieser junge Mann denn sei.
Als ich Jawad kennenlernte, lebte er noch in Afghanistan. Hier studierte er „computer science“ an der Universität Kabul und konnte einen Bachelorabschluss erreichen. Aufgrund der immer schlechter werdenden Situation in seinem Heimatland, die Terrororganisation Taliban eroberte zu dieser Zeit immer häufiger Gebiete, und der familiären Umstände, die Familie wurde bereits früher seitens der Taliban bedroht, verließ er mit seinem Vater und Schwestern Afghanistan im Februar 2020. Sie emigrierten nach Indien. Die afghanische Botschaft in Mumbai gewährte ihnen eine Unterkunft, da sein älterer Bruder Hamed hier für die (alte) Regierung Afghanistans arbeitete. In Indien setzte er sein Studium an Universität in Pune fort und schloss dieses im August 2022 mit einem Master in „Business Administration“ ab.
Obwohl er einen hohen Bildungsabschluss besitzt, steht Jawad vor einer sehr ungewissen Zukunft. Sein Touristen-/Studienvisum ist abgelaufen. Nur aufgrund der Machtübernahme der Taliban im Mai 2021 wird er von der indischen Regierung noch geduldet und nicht nach Afghanistan zurückgeschickt. Auch sein Bruder Hamed ist seit dem politischen Umsturz arbeitslos und ohne Einkommen. Momentan leben sie vom Ersparten und gelegentlich erhalten sie von der indischen Regierung eine kleine finanzielle Überlebenshilfe.
Nach Afghanistan können Jawad und seine Familie nicht zurückkehren, da sie dort den Tod fürchten müssen. Denn die Taliban brachte in den letzten Monaten immer wieder Menschen um, die entweder für die alte Regierung arbeiteten oder Verwandte jener sind.
Wer mich kennt, der weiß, dass ich nicht nur in Mumbai bin, um Jawad zu treffen und die Stadt zu erkunden. Nein. Ich bin auch hier, um Jawad zu unterstützen. Die Bedrohung durch die Taliban, das Verlassen seines Heimatlandes, die prekäre Situation in jenem und die Sorge um noch dort lebende Freunde machen ihm zu schaffen. Neben den traumatischen Erlebnissen der Vergangenheit hat er hier mit unzähligen Alltagsproblemen und Zukunftssorgen zu kämpfen: Wo kann ich wohnen, wenn ich die Botschaft bald verlassen soll? Warum erhalte ich kein Arbeitsvisum, obwohl ich arbeiten möchte? Zu den finanziellen Sorgen kommt die Frage, ob ein langfristiger Aufenthalt in Indien überhaupt möglich ist. All das hat tiefe Spuren bei ihm hinterlassen. Das weiß ich, weil das Dinge sind, über die wir uns natürlich unterhalten.
Deshalb werde ich die Tage hier auch nutzen, um ihm aktiv zu helfen. So habe ich mich bereits nach Möglichkeiten erkundigt, was es braucht, dass ein hochqualifizierter junger Mann in Deutschland leben und arbeiten kann. Zudem schreiben wir zurzeit zahlreiche Initiativbewerbungen an diverse IT-Firmen. Hier sieht Jawad berufliche Perspektiven. Ob es funktioniert? Wie groß sind die Erfolgschancen? Ich weiß es nicht. Doch die Hoffnung werde ich nicht aufgeben.
Denn manchmal lohnt es sich, wenn man sie nicht aufgibt. Damit wäre ich wieder bei meinem Rucksack, der nach den versprochenen ein bis zwei Tagen noch immer spurlos verschwunden war. Am dritten Tag wurde ich erneut angerufen, beantwortete brav alle Fragen zum Aussehen des Gepäckstücks. Ist ja nicht so, als ob ich das noch nie gemacht hätte 😉 Ferner wurde ich aufgefordert, eine E-Mail an den Flughafen zu senden, welche einige Bilder von meinem Rucksack beinhaltet. Gesagt, getan. Auf dem Online-Forum von Qatar-Airways registrierte ich mich ebenfalls und klickte mich 45 Minuten durch den englischen Fragenkatalog. Der Tag verstrich ohne eine Infos seitens des Flughafenpersonals. Mittlerweile versuchte der Schwiegerpapa meiner Schulfreundin Kathi, der im zwei Stunden entfernten Chennai lebt, sein Glück. Auch ihm sollte ich noch einmal von der schier endlosen Geschichte meines bagpacks berichten, Bilder schicken und Fragen beantworten. Er hätte einen guten Draht zur Flughafenpolizei und wollte diese Möglichkeit prüfen. Der Polizist dort hatte – ihr vermutet es sicherlich – wieder ein paar Fragen zum Rucksack. Immerhin unterschieden sie sich nicht zu denen, der vergangenen Tage und so hatte ich keine Schwierigkeiten sie fehlerfrei zu beantworten 😉 Als das Jawads Handy am fünften Tag klingelte, es war später Nachmittag und wir waren gerade auf dem Weg zu einem Café, sah ich bereits die Nummer des Flughafens. Am Grinsen meines Freundes erkannte ich, dass es die lang ersehnte positive Nachricht war und ich ihm anschließend nicht nur einen Kaffee ausgeben werde.
Am Abend konnte ich mein Hab und Gut wieder in die Arme schließen 😀 Auch wenn es weitestgehend nur materielle Dinge waren, so war ich doch froh über das „Wiedersehen“. Dadurch erspare ich mir jede Menge Zeit (für die Neubeschaffung der Klamotten) und Ärger (bezüglich der Klärung einer finanziellen Entschädigung). Zudem bin ich wieder in Besitz eines wundervollen und mir wichtigen Buches, in welchem Freunde und Familie zum Abschied ein paar liebe Worte hinterließen. Auch alle Karten, die ich anlässlich meines neuen Lebensabschnitts erhielt, hatte ich dem Büchlein beigefügt.
Mein Abenteuer, die Welt zu bereisen, kann also nun frohen Mutes weitergehen.
Was ich außerdem in den ersten Tagen meines Indienaufenthaltes erlebte, darüber werde ich im nächsten Blogeintrag schreiben. Ihr dürft also gespannt sein, ob ich mich in den Straßen der Millionenmetropole bereits verlief, wie mein Magen auf indisches Essen reagierte und warum ich oft fotografiert oder nach einem Selfie gefragt werde.
Dieser Beitrag hat einen Kommentar
Ich bin sehr froh das du dein Rucksack zurück hast. Das ist ja trotzdem ein Stück altes Leben bzw. Erinnerung, was dann einfach mal weg ist . Also ich wäre verzweifelt und komplett durchgedreht , bei den sich wiederholenden hundert Fragen.
Und das noch mit extremen Schlafmangel. 🙄😵
Das Schicksal deines Freundes ist echt traurig und einfach nur scheiße. Da gibt es schon Menschen, die wirklich arbeiten wollen und echt was auf dem Kasten haben und diese dürfen nicht. Andere hingegen haben keine Lust und müssen auch nicht. Das ist nicht zu glauben(Bürokratie von 1.Klasse).
Ist ja in vielen Ländern ein Thema. Aber das soll nicht Thema werden. Ich weiß, das du zu hundert Prozent wieder dein Bestes geben wirst und mit deinen Freund versuchst eine Lösung zu finden. Nächstenliebe hast du ja ohne Ende 😊
Viel Spaß noch und bis später Brudi