Nach aufregenden vier Wochen verlasse ich morgen am 27. September Indien. Für mich ist die Zeit gekommen, weiterzuziehen – nach Nepal. Im Himalaya wartet nun ein langersehentes Trekkingabenteuer auf mich: der Annapurna Circuit. Das ist eine Trekkingroute (also ein Fernwanderweg) um die Annapurna-Gebirgskette. Sie gilt als eine der schönsten und abwechslungsreichsten der Welt.
28 Tage verbrachte ich in den Millionenmetropolen Mumbai, Pune und Chennai. Eine Zeit, die ich gewiss nicht vergessen werde, hatte sie doch so viel Neues, Interessantes, Schönes, Ungewöhnliches, Seltenes, Anstrengendes aber auch Unschönes zu bieten. Es ist, wie ich bereits schrieb, ein Land der Gegensätze. Ich möchte an dieser Stelle ehrlich sagen, dass ich Indien nicht zu den Top-Ten meiner Lieblings(reise)länder zählen werde. Da gibt es zu viele Dinge, mit denen ich gedanklich hadere beziehungsweise die eine bessere Platzierung in meinem subjektiven Ranking verhindern. Die Umweltverschmutzung ist dabei der offensichtlichste und vordergründigste Kritikpunkt. Auch für die Lärm- und Verkehrsbelastung sowie die mancherorts fehlenden Hygienestandards muss ich Minuspunkte vergeben. Natürlich täte ich dem Land Unrecht, wenn ich es nur auf diese Gesichtspunkte reduzieren würde. Ich habe auch lediglich kleine Teile im Westen und Osten dieses gigantisch großen Landes gesehen. Im Norden und Süden würden noch zahlreiche andere Eindrücke auf mich warten – sowohl die Landschaft, das Klima als auch die Kultur betreffend. Gewiss hätte ich die Zeit, um auch diese Gegenden zu erkunden. Doch mein Verlangen, ein neues Reisekapitel aufzuschlagen, ist stärker als das Bedürfnis am alten Kapitel weiterzuschreiben.
Das Kapitel Indien – es endet mit den bereits erwähnten gemischten Gefühlen, einer kräftezehrenden Erkältung in den letzten Tagen aber auch tollen Erlebnissen. In Pune besichtigte ich beispielsweise den Aga Khan Palace. Hier wurde Mahatma Gandhi – ein Pazifist, der zum geistigen und politischen Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung wurde – von der britischen Kolonialmacht für fast zwei Jahre festgehalten. Die Räumlichkeiten, in denen der Menschenrechtsaktivist lebte, sind heute ein Museum. An diesem Ort zu verweilen, an welchem er trotz widriger Haftbedingungen für seine Ideale einstand, war bewegend und inspirierend zugleich.
Die letzten Tage meines Indienaufenthaltes verbrachte ich in Chennai, im Osten des Landes. Hier wohnte ich bei den Schwiegereltern meiner Schulfreundin Kathi. Dankenswerterweise erhielt ich dadurch einen besonderen Einblick in das Leben einer sehr religiösen hinduistischen Familie. Kathis Schwiegerpapa Nakarajan würde ich als einen sehr frommen Mann beschreiben. Noch nie ist mir ein Mensch begegnet, dessen Religion in jedem Aspekt seines Lebens so gegenwärtig scheint. Hier ein paar Beispiele: neben den Tempeln in ihrer Umgebung haben Nakarajan und seine Frau in ihrer Wohnung ein eigenes kleines Puja-Zimmer. Dieses beinhaltet einen kleinen bunten Altar, der nicht nur aus einem Bild ihrer zahlreichen Götter besteht. Bei der täglichen Puja wurden den Göttern Früchte, Blumen und Essen dargeboten und vor dem Bildnis der Gottheit ein Licht angezündet. Dann beteten sie. Überhaupt dankte Nakarajan vor jeder Nahrungsaufnahme einem Gott. Auch bevor er das Haus verließ, sprach er ein paar Worte. Hierzu blieb er vor der Eingangstür stehen und warf einen Blick auf das Foto über der Tür. Ähnlich verhielt er sich, bevor er auf das Moped stieg. Manchmal stoppte er sogar seine Fahrt im dichtesten Straßenverkehr, um an einem Tempel für einige Sekunden ein paar Worte zu sprechen. Ob im Bus oder in der Bahn, oft sah und hörte ich Kathis Schwiegerpapa beten. Sicherlich könnt ihr euch vorstellen, dass ich in jenen Tagen viele Geschichten über die verschiedenen Götter erzählt bekam – leider zu viele für mein Kurzzeitgedächtnis 😉
Gemeinsam mit Nakarajan besuchte ich auch die Hafenstadt Mamallapuram, im 7. Jahrhundert nach Christus auch Mittelpunkt eines mächtigen Königreiches. Während dieser Zeit entstanden zahlreiche Baudenkmäler. Darunter die fünf Rathas, eine Gruppe von monolithischen Tempeln. Jedes der fünf Monumente wurde in einem Stück aus dem Fels gehauen. Beeindruckend. Ebenso wie das Flachrelief „Die Herabkunft der Ganga“. Mit 12 Metern Höhe und 33 Metern Breite ist es eines der größten Felsrelief der Welt. Vielleicht sogar das Größte. Es ist ebenfalls im 7. Jahrhundert entstanden.
Wunderschöne Kulturstätten wie eben Erwähnte und all jene, die ich in den letzten Wochen besichtigte, sind auf jeden Fall ein Grund, warum man Indien besuchen sollte. Zudem ist es ein Land mit vielen wunderbaren Menschen, für die Herzlichkeit und Gastfreundschaft selbstverständlich ist.
Zugegeben: ich war ursprünglich nur nach Indien gekommen, um meinen afghanischen Freund Jawad zu besuchen. Dieser Lebenstraum hatte sich erfüllt und deshalb kann ich auch fast guten Gewissens weiterreisen. Fast? Ja, fast. Denn Jawads Lebenssituation wird mich gedanklich noch für eine lange Zeit begleiten. In einem meiner letzten Blogeinträge hatte ich bereits über seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geschrieben. Dabei hatte ich auf seine Sorgen und Nöte aufmerksam gemacht. Leider haben sich diese in der Zeit, in welcher ich ihn begleitete, vergrößert. Ich erzählte euch von seinem Bruder Hamed, der in der afghanischen Botschaft in Mumbai für die alte Regierung arbeitete und folglich auch dort mit seiner Familie lebte. Hameds Vorgesetzte, ebenfalls in dieser Botschaft lebend, setzte der Familie nun ein Ultimatum bis zu dessen Ablauf sie das Botschaftsgebäude verlassen müssen. Diese korrupte und selbstlose Frau (Jawad fand dafür andere direktere Bezeichnungen) möchte alle Wohnungen der Botschaft vermieten und damit Geld verdienen. Nun fragt ihr euch bestimmt: „Darf sie das denn? Ist das legal?“
Es ist natürlich nicht legal. Doch das Botschaftsgelände ist afghanisches Territorium und seit der Machtübernahme der Taliban ein mehr oder weniger „rechtsfreier“ Raum. Zudem ist diese Frau für die indische Regierung immer noch die offizielle und gewählte Botschafterin des einst demokratischen Afghanistans. Also wird sie niemand daran hindern, ihre Landsleute vor die Tür zu setzen und die Wohnungen an Menschen zu vermieten, die bereit sind eine Menge Geld dafür zu bezahlen. Ferner kann Hameds spezielles Arbeitsvisum nur durch diese Frau verlängert werden. Ergo: weigert er sich, auszuziehen, verlängert sie sein Visum nicht und Hamed müsste mit seiner Frau und seinen beiden Kindern Yussef (2) und Omar (5) zurück nach Afghanistan. Als Mitarbeiter der alten Regierung droht ihm dort der sichere Tod durch die Taliban. Deshalb wird die Familie die Botschaft verlassen (müssen).
Im Gegensatz zu Hamed haben Jawad, sein Vater und seine Schwestern lediglich ein blaues „Flüchtlingsnachweis“. Das ist ungefähr so viel wert wie der berühmte Sack Reis in China. Zwar berechtigt es zum Aufenthalt hier in Indien, hat aber keinerlei andere Vorteile. Frei nach dem Motto: Willkommen in Indien, aber sieh zu, wie du dir selber hilfst.
Wer über die Situation der Afghanen in Indien weitere Informationen oder Hintergründe benötigt, dem empfehle ich folgenden Artikel: https://www.deutschlandfunkkultur.de/afghanen-in-indien-100.html.
Ich könnte jetzt noch weitere Details, Möglichkeiten oder Umstände beschreiben unter welchen Jawad und seine Schwestern in gefühlten einhundert Jahren in Indien halbwegs gut leben könnten, doch das würde den Rahmen sprengen. Sollte jemand mehr Infos brauchen, dann schreibt mich einfach per WhatsApp an.
Fakt ist, dass die Familie nun noch größere finanzielle Schwierigkeiten haben wird. Im Gegensatz zur Botschaft wird die neue Wohnung Geld kosten. Omars neue Schule wird Schulgeld verlangen, welches immer für das ganze Schuljahr im Voraus zu zahlen ist. Hinzu kommen weitere Kosten für Schulkleidung, Schulmaterial und den bevorstehenden Umzug.
In meinen letzten Tagen in Mumbai habe ich sehr intensiv mit Jawads Familie gesprochen und dabei diverse Zukunftsmöglichkeiten diskutiert. Zudem haben wir Bewerbungen geschrieben und nach Deutschkursen gesucht. Eine kleine finanzielle erste Hilfe zu leisten, schien mir auch angebracht. Auch wenn ich seit vergangenen Mittwoch nicht mehr in Mumbai bin, so darf sich die Familie meiner Unterstützung auch in Zukunft sicher sein. Ich muss euch bestimmt nicht sagen, dass der Abschied von dieser wundervollen Familie sehr emotional war. Noch nie habe ich Jawad, diesen erwachsenen jungen Mann, der schon so viel durchmachte und nach Außen stets den Starken mimt, solch bittere Tränen weinen sehen. Er meinte, dass die vergangenen Wochen mit die Schönsten in seinem Leben waren. Dankbar und mit Tränen in den Augen umarmte er mich mehrfach. Ein Moment, der auch mich nicht kalt ließ und mir zudem Motivation und Ansporn war, ihm und seiner Familie weiterhin zu helfen.
Dieser Beitrag hat 2 Kommentare
Indien ist wahrscheinlich nicht das schönste Land für dich auf deiner Reise, aber das bestimmt das mit dem emotionalsten Erlebnis. Ich wünsche Jawad und seiner Familie alles Gute und das ihre Wünsche in Erfüllung gehen und hoffe ihr seht euch mal wieder. Indien ist baulich(Denkmäler und Tempel etc.) bestimmt sehr interessant denke ich. Respekt vor den Menschen die das gebaut haben oder mussten. Es würde mich persönlich trotzdem nicht reizen dort Urlaub zu machen. Zu verrückt, zu laut, zu eng, alles zu viel. Aber ich freue mich für dich, das du diese Erfahrung gesammelt hast. Dann bis zum nächsten Eintrag Brudi
Indien steht auf meiner Urlaubsliste auch nicht so sehr weit oben, wobei die Kultur schon interessant ist. Du solltest das alles aufsaugen um es uns irgendwann mal mitzuteilen.
Bleib gesund und liebe Grüße!!