Überholt wird immer links, nur bei klarer Verkehrslage und ohne Behinderung des Verkehrs. Der Mindestseitenabstand sollte einen Meter betragen. Nicht zu vergessen sind der Blick in den Rückspiegel und das Setzen des Blinkers. Etwa so hatte ich das Überholen im Straßenverkehr vor zirka 18 Jahren in der Fahrschule gelernt.
Zurzeit in Indien lebend, frage ich mich ernsthaft, ob die Menschen hier jemals eine Fahrschule gesehen, geschweige denn besucht haben.
Aus Sicht eines meist vorbildlich fahrenden Deutschen, der noch nie einen Unfall verursachte, herrscht in den Straßen Indiens ein absolutes Verkehrschaos. Dieses zu beobachten und Teil dessen zu sein, ist einerseits spannend und faszinierend, andererseits aber auch anstrengend und nervenaufreibend.
Wer von euch denkt, dass das Fahren in den deutschen Großstädten wie beispielsweise Berlin, München oder Hamburg stressig sei, der war möglicherweise noch nie in einer asiatischen oder afrikanischen Millionenmetropole, in der es scheinbar keine Regeln gibt. Vorweggenommen: es gibt sie – die Verkehrsregeln, Verkehrsschilder, Fahrschulen und Führerscheine.
Doch die Realität lässt einen europäischen Touristen wie mich an eben erwähnten Dingen zweifeln. Auch wenn Verkehrsregeln existieren, scheint die Einhaltung dieser doch eher außergewöhnlich.
Einmal wird links überholt, einmal rechts. Einmal dort, wo sich eine Lücke auftut. Tut sich keine auf, dann wird eben kräftig auf die Hupe gedrückt. Das scheint übrigens ein weitverbreitetes Hobby zu sein – das Hupen. Es vergeht kaum eine Sekunde, in der dieses lästige Signal nicht ertönt. Hupen ist hier Teil der Kommunikation. Es gehört zur indischen Geräuschkulisse einfach dazu, so wie das Zwitschern der Vögel im Thüringer Wald.
Mit dem Tuc Tuc durch Mumbai – hört einfach mal rein 😉
Bisher konnte ich bei den Taxifahrern drei Kategorien von „Hupern“ ausmachen.
Kategorie 1: die „Kein-Bock-Huper“. Sie hupen gar nicht oder nur relativ selten. Sie zweifeln nicht an der Existenz des Hupgeistes, doch sie wissen, dass auch er keine Wunder vollbringen kann. Ihnen ist das ständige Drücken des Knopfes zuwider, da es ihrer Auffassung nach nichts bringt und lediglich Kopfschmerzen verursacht.
Kategorie 2: die „Hobbyhuper“. Sie lieben den Sound, der sich aus den Signaltönen ergibt. Sie sind gern Teil des täglichen Hupkonzerts und stimmen mit viel Freude darin ein. Sie sind überzeugt, dass der Hupgeist Gutes vollbringen kann. Um ihn dabei zu unterstützen und die entsprechende Ehre zu erweisen, erklingt ihr Warnsignal alle 300 Meter mindestens einmal.
Kategorie 3: die „Hupfanatiker“. Hupen liegt ihnen im Blut. Ohne können sie nicht leben beziehungsweise fahren. Teilweise haben sie auch ein anderes und moderner wirkendes Warnsignal. 100 Meter fahren ohne zu hupen, ein absolutes No-Go. Einfach alles und jeder wird behupt: von trödelnden Kollegen über nervige Verkehrspolizisten bis hin zur alten Oma, die auf den passenden Moment wartet, um die Straße zu überqueren. Rücksicht auf andere zu nehmen, das kennen die zur radikalen Hupszene zählenden Fahrer nicht. Frei nach dem Motto: die Götter werden des schon richten. Hupen macht ihnen einfach zu viel Spaß, tut dem Ego gut, ist Markenzeichen und Lebenselixier zugleich.
Zurück zur Fahrweise der Inder. Grundsätzlich gilt: jeder fährt so, wie es ihm beliebt. Daher ist es auch nichts Besonderes, wenn ein Fahrzeug mitten auf der Straße dreht. Kühe, Elefanten und Kamele sowie Hunde gehören auch zum Straßenbild. Die einen sind heilig, die anderen Transportmittel und letztere in hinduistischen Legenden Wächter der Eingänge zum Himmel und zur Unterwelt.
Natürlich herrscht hier Linksverkehr, wobei man es damit nicht immer so genau nimmt. Wie gesagt, die Verkehrsregeln gibt es oft nur auf dem Papier. Wer Vorfahrt hat, ist für mich kaum auszumachen. Meist das schwerere Fahrzeug. Ich glaube, hier gilt das Recht des Stärkeren.
Verkehrschaos -aufgenommen in Pune, einer Millionenstadt.
Unterwegs sind Autos, Taxis, Busse, LKWs, Motorräder, Fahrräder, Auto- und Fahrrad-Rickshaws, Menschen mit alten Transportkarren und natürlich Tiere. Es wirkt alles sehr chaotisch. Das ständige Hupen, der Lärm, die Abgase, die herumliegenden Tiere, die in Monsunzeiten teilweise oder gänzlich unter Wasser stehenden Straßen, die gelegentlichen Geisterfahrer, die bedrückende Enge (jeder fährt so nah wie möglich auf), das plötzliche und schier rücksichtslose Kreuzen anderer Fahrzeuge, Ware pfeilbietende Menschen oder mit ihrem Leben spielende Fußgänger.
Trotz des unübersichtlichen Durcheinanders bin ich erstaunt, dass alles weitestgehend reibungslos funktioniert. Bisher habe ich kaum Unfälle gesehen oder Streitigkeiten erlebt. Irgendwie findet jeder eine Lücke im Straßenverkehr und hält ihn damit am Laufen. Staus gibt es selten, dafür sind längere Wartezeiten an Ampeln oder zur Rushhour häufiger. Doch so richtig scheint dies niemanden zu stören. Wahrscheinlich weil hier alles etwas langsamer vonstatten geht. Zwar sind in der Stadt auch 50 km/h erlaubt, doch erreicht werden diese aufgrund des dichten Verkehrs ohnehin nicht.
Fazit: das Fahren im indischen Verkehrsgewimmel gleicht einer Extremsportart. Autos ohne Lackschäden sind eine Seltenheit. Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig hupen. Fußgänger brauchen Mut und Geschick, um lebend die Fahrzeugkolonnen zu durchqueren. Verkehrsregeln werden überbewertet. Das Chaos regelt sich meist von selbst.
Dieser Beitrag hat 2 Kommentare
Also ist das nicht nur im TV so, sondern auch live 😅. Das würde mich so nerven jeden Tag sowas erleben zu müssen. Das geht gar nicht. Da ist der Stressfaktor am Montag schon für die restliche Woche erreicht. Als Handwerker der pünktlich auf der Baustelle sein will, der Horror. Ich beneide dich zur Zeit nicht 😉
Ich musste bei deiner Einleitung so lachen, weil ich ja wusste, was kommt. Aber ja, man muss nicht alles regeln. Manches regelt sich besser von selbst.